Lesen – kann doch (fast) jeder!

Über das Lesen und die Fähigkeit zu lesen ist schon viel geschrieben worden. Die vielen Artikel zu diesem Thema verraten vor allem eines: das Lesen ist über den praktischen Nutzen hinaus, noch immer etwas sehr geheimnisvolles. Die Inhalte, Sätze, Buchstaben – man kann ihre Wirkung nicht vorhersagen! Irgendwer hat angefangen zu schreiben, zu Hause, im Café, im Wald oder auf grüner Wiese, im Bett oder auf Reisen; mit Tinte oder Bleistift, im Computer oder mit der Schreibmaschine. Immer sind die Bücher, die Sätze, die Geschichten, die Verse, ein Versuch mit mir, mit dir ins Gespräch zu kommen. Ich war als Kind kein Bücherwurm – es gab um mich herum Kinder die schon viel früher abgetaucht waren und dicke Romane lesen konnten, die später Literatur studierten und ihr Wissen wiederum zur Verfügung gestellt haben. Bei mir war es etwas anders, ich las weil ich die Sprache zum Leben erst finden musste – ich studierte am lebendigen Objekt, an mir, als Schauspielerin- Theaterstücke, Geschichten und Gedichte, Dialoge und Berichte. Ich lese für Menschen aller Altersstufen und überall wo ich Räume finde. Ich lese vor, was ich bemerkenswert finde und was ich gerne teilen möchte. Ich achte auf jedes Wort und höre immer auch der Stimme nach, die mir erzählt, der Stimme des Autors oder der Autorin oder der Protagonisten. Ich achte auf die Wahl der Worte, auf die Situation, das Erzähltemperament. Ich gehe durch ein Buch, wie der Botaniker durch den Regenwald, der Kunsthistoriker durch die Ausstellung, der Ornithologe durchs Vogelschutzgebiet. Wenn ich einen Text auswähle, dann habe ich zuvor hineingehört in all das, was dem Text vorausging bevor er geschrieben wurde. Dem ausgesprochenen Satz geht ein Gedanke, ein Wille, eine Empfindung voraus – denn jeder Mensch der kommuniziert entscheidet mehr oder weniger bewußt darüber, was er sagen will und was er verschweigt (letzteres ist nicht weniger interessant! – in der Musik ist das die oft zitierte Pause). Für den Zuhörer gilt es wahrzunehmen und einzuorden. Entschlüsseln ist Unterhaltung – und es geht nur in einem geeigneten Umfeld, einer Atmosphäre der Offenheit und Neugier. Die Fähigkeit lesen oder aufnehmen zu können ist eine reizvolle Herausforderung. Gewitzte, selbstbewusste Autoren*innen gehen mit dieser Herausforderung manchmal ziemlich weit. Vor kurzem habe ich ein Buch verschenkt, dass mich sehr bewegt hat – „Lincoln im Bardo“, von George Saunders. Ich bekam es zurück und der Beschenkte sagte mir ein wenig niedergeschlagen, dass er zwar viel und gerne lese, aber dieses Buch nicht lesen könne. Trotz guten Willens gelang es nicht eine Brücke zum Schreiber zu finden. Ich möchte nicht über Saunders sprechen, sondern darüber, dass man manchmal jemanden braucht der vermittelt. Und darum lese ich auch Dinge vor, die liegen bleiben, vergessen oder übersehen würden, weil sie nicht ohne weiteres konsumierbar sind, von deren Qualität ich aber überzeugt bin. Ich mache das nie allein – ich brauche mein aufmerksames Publikum, einen RAUM, der immer mitspielen muss. Es gibt Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten geteilt haben. Vielleicht ist die Sprache beim ersten Hören sperrig, ungewohnt. Dann aber, mit Offenheit und vielleicht auch Wohlwollen aufgenommen, erschließt sie sich. Leider ist es so, dass nur wenige Frauen in früheren Zeiten miterzählt haben oder Gehör fanden – so fehlen oft authentische weibliche Gegen-Perspektiven. Es ist für mich dennoch reizvoll, manchmal aus der männlichen Perspektive als Frau vorzutragen, nicht als Mann oder Frau, sondern als Mitmensch. Was uns in jedem Falle zur Verfügung steht sind Welten, unendlich wie der Kosmos, als Geschichten, als Poesie und vorallem als Erbe – unermesslich, intelligent, lustig, böse, berechnend, luzid oder dunkel, warm, kalt und vielfältig. Dieser Reichtum, denn es ist nichts anderes, vergeht durch Vergessen und Vernachlässigung. Ein Menschenleben ist kurz, gemessen an dem großen Stoff, den es zu begreifen gilt. Solange wir jedoch sterben müssen, so lange kommen wir nicht darum herum auch Bilanz zu ziehen, uns an den Themen abzuarbeiten, den großen und kleinen – wir werden vielleicht durch Lesen etwas klüger und glücklicher, wir könnten sogar etwas weniger einsam sein, wenn wir das Glück und die Fähigkeit trainiert haben, unsere Erfahrungen zu teilen. Lesen hilft.